Wir Würstchen

„Das Schönste, was ich erlebt habe, war der Freitag. Wenn man weiss: morgen ist Samstag. Denn am Samstag arbeitet man noch und weiss: morgen ist Sonntag; Am Sonntag war fast immer ein Fussballspiel, aber schon in der Halbzeit-Pause, wenn ich Würstchen ass, war es grässlich, denn das wusste ich: Morgen ist wieder Montag, und alles fängt von vorne an.“

Der Mörder in „Graf Öderland“ weiss nicht nur nicht, warum er den Hauswart mit einer Axt erschlagen hat, er weiss auch nicht, warum er arbeitet, und noch weniger, warum er lebt. Der Sinn entflieht ihm ständig, er liegt entweder vor ihm oder hinter ihm, und wenn er am greifbarsten ist, nämlich beim Biss ins Würstchen, ist dieser Bissen auch schon zerkaut und verschluckt. Das Würstchen arbeitet nicht für uns, wir aber fürs Würstchen. Und darum fühlen wir uns ihm gleich.

Wie arbeiten, wie leben? Wie lässt sich eine Gesellschaft denken, in der nicht das Geld für uns arbeitet, wir aber auch nicht fürs Geld arbeiten?

„Wir müssen den Mut aufbringen, den Exodus aus der „Arbeitsgesellschaft“ zu wagen. Die „Arbeit“ hat ihre zentrale Rolle im Bewusstsein, im Denken und der Vorstellungskraft aller Menschen zu verlieren, wir müssen lernen, sie mit anderen Augen zu betrachten – nicht mehr als das, was man hat oder nicht hat, sondern als das, was wir tun. Wir müssen es wagen, uns die Arbeit wiederanzueignen.“

schreibt der französische Sozialphilosoph André Gorz in seinem soeben im Rotpunkt Verlag auf deutsch erschienen Buch „Kritik der ökonomischen Vernunft“. Und weiter:
Zum ersten Mal in der Geschichte der Neuzeit könnte damit die bezahlte Arbeit aufhören, in unserer Zeit und in unserem Leben die wichtigste Rolle einzunehmen. Die Befreiung von der Arbeit wird zum ersten Mal zur greifbaren Perspektive. Doch sollte man die Folgen, die dies für eine(n) jede(n) von uns mit sich bringt, nicht unterschätzen. Der Kampf für eine beständige und einschneidende Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit setzt voraus, dass diese selbst zunehmend aufhört, die einzige oder auch nur die wichtigste Lebensbeschäftigung zu sein. Sie müsste aufhören, unsere wichtigste Quelle sozialer Identität und Zugehörigkeit zu sein.
Was es gemäss Gorz dazu braucht: Ein Grundeinkommen für alle, Entfunktionalisierung der Erwerbsarbeit und Neudefinition der Arbeit, Reduktion der Erwerbsarbeitszeit und Einführung der Lebensarbeitszeit.
André Gorz zur Sinnhaftigkeit der Arbeit und zum Grundeinkommen:

Kurz, um die Gesellschaft zu verändern, muss man »die Arbeit« verändern — und umgekehrt. Es gilt, die Arbeit durch die Befreiung von allen verdinglichenden Zwängen (wie Arbeitszeit- und Leistungszwänge, hierarchische Zwänge) zu verändern, die nur die Unterordnung unter das Kapital widerspiegeln und die bis heute das Wesen dessen, was man gewöhnlich »Arbeit« nennt, bestimmt haben. Es gilt, sie durch die Versöhnung mit einer Alltagskultur und einer Lebenskunst zu verändern, deren Fortsetzung sie ebensosehr werden soll wie deren Quelle, anstatt davon getrennt zu sein. Es gilt, sie auf Grund der Aneignung zu verändern, deren Objekt sie von Kindheit an wird, wenn sie nicht mehr als Strafe, sondern als eine in die Lebenszeit eingelassene Aktivität gelebt wird, als ein Weg zur Entfaltung der Sinne, zur Macht über sich und die Dinge und als Bindung an die anderen. Und es gilt, sie von Kindheit an zu verändern durch die Verknüpfung des Wissenserwerbs mit dem Stolz auf erworbene Fertigkeiten. Es ist vorstellbar, dass man in dieser Richtung noch sehr viel weiter geht und das (autodidaktische) Lernen mit ökologischen, sozialen und kulturellen Gruppenprojekten kombiniert, die mit Arbeit, Studien, Experimentieren, Austausch, künstlerischer Praxis und persönlicher Entfaltung Hand in Hand gehen. Am Ende der Jugendzeit hätte dann ganz selbstverständlich ein Grundeinkommen zur Verfügung zu stehen. Es ist vorstellbar, dass dieses Einkommen, zunächst nur partiell, in dem Masse vollständig wird, wie die Jugendlichen eine Reihe von Kompetenzen dadurch entwickeln, dass sie als Ergänzung zu ihren »Studien« im öffentlichen Leben der Stadt und besonders in öffentlichen Einrichtungen praktische Aufgaben mit wachsender Vielfalt, Komplexität und Qualifikation übernehmen. Die »Arbeit« kann dann ganz natürlich zu einer Dimension des Lebens unter vielen werden. Sie kann mit einer Reihe von anderen Aktivitäten einhergehen und sich abwechseln, Aktivitäten, deren »Produktivität« nicht in Betracht kommt, obwohl sie indirekt durch die Ausbildung schöpferischer, phantasievoller und expressiver Fähigkeiten zur Produktivität der Arbeit beitragen. (…)

Ich weiss, wer immer die Garantie eines ausreichenden gesellschaftlichen Grundeinkommens fordert, wird schließlich auf folgenden Einwand treffen: »Der Anreiz zur Arbeit wird dadurch stark nachlassen, und am Ende wird es der Gesellschaft an Arbeitskräften fehlen.« Dieser Einwand dürfte eigentlich nur von denen gemacht werden, die selbst ungern arbeiten und es ohne Zwang unterlassen würden. Er verweist folglich implizit gerade auf die Notwendigkeit, die Gesellschaft so zu organisieren, dass es keine Anreize (in Wirklichkeit Zwänge) braucht, um die Menschen zur Arbeit zu motivieren.

André Gorz zur Arbeitszeitverkürzung:

Eine allmählich bis auf 1000 Stunden pro Jahr fortschreitende Arbeitszeitverkürzung verleiht der verfügbaren Zeit völlig neue Dimensionen. Die Zeit der Nicht-Arbeit ist dann nicht mehr notwendigerweise bloße Zeit zum Ausruhen, für Erholung, Zerstreuung und Konsum; sie dient nicht mehr zur Kompensation der Mühen, Zwänge und Frustrationen der Arbeitszeit. Die freie Zeit ist nicht mehr nur die »übrigbleibende Zeit«, die immer zu knapp bemessen ist, die auszunutzen man sich ständig beeilen muss und in der es daher gar nicht in Frage kommt, noch etwas Eigenständiges zu unternehmen.
Wenn jedoch die Arbeitszeit auf wenigstens 25 bis 30 Wochenstunden reduziert worden ist, dann kann die verfügbare Zeit von Tätigkeiten ausgefüllt werden, die man ohne ökonomische Zwecksetzung unternimmt und die das Leben des einzelnen sowie der Gemeinschaft bereichern: kulturelle und ästhetische Aktivitäten, die darauf abzielen, Freude zu empfinden und zu spenden, die Leben Umwelt zu verschönern und zu »kultivieren«; unterstützende und pflegende Tätigkeiten gegenseitiger Hilfe, die im Stadtviertel oder in der Gemeinde ein Netz solidarischer Sozialbeziehungen knüpft Entwicklung von Beziehungen der Freundschaft und des affektive Austauschs; erzieherische und künstlerische Tätigkeiten; Reparaturarbeiten und Eigenproduktion von Nahrungsmitteln »aus Freude am Selber-Tun« und daran, die Gegenstände, an denen man Gefallen findet, zu bewahren und weiterzugeben; Genossenschaften und Austauschbörsen für Dienstleistungen (und so weiter).

André Gorz zur Lebensarbeitszeit:

1000 Stunden im Jahr, das können wöchentlich 20 Stunden einer Zweieinhalb-Tage-Woche sein oder 10 Tage im Monat oder 25 Wochen im Jahr oder 10 auf zwei Jahre verteilte Monate — wohlgemerkt, ohne Verlust an Realeinkommen. Man kann auch die Arbeitszeit auf das ganze Erwerbsleben bezogen festlegen: zum Beispiel 20’000 bis 30’000 Lebensarbeitsstunden, die in der Zeitspanne der fünfzig aktiven Lebensjahre verrichtet wer— den und einem/r jeden lebenslang ein volles Normaleinkommen sichern, so wie es heute 1600 Stunden im Berufsjahr tun.
Eine derartige Selbstgestaltung der Lebensarbeitszeit wird in Schweden aufgrund folgender Vorteile diskutiert: sie ermöglicht es einem/r jeden, während bestimmter Lebensperioden mehr oder weniger zu arbeiten und damit seine/ihre jährliche Arbeitszeit zu übet oder zu unterschreiten, gewissermaßen als »Vorschuss« auf oder »Anzahlung« von frei verfügbarer Lebenszeit; seine oder ihre Berufstätigkeit ohne Einkommensverlust für mehrere Monate oder Jahre zu unterbrechen, um das Studium wiederaufzunehmen, einen anderen Beruf zu erlernen, ein künstlerisches Projekt, eine wissenschaftliche Forschung, eine humanitäre oder genossenschaftliche Tätigkeit in Angriff zu nehmen.

Der Abschnitt zum Grundeinkommen entstammt aus André Gorz‘ Schrift „Arbeit zwischen Misere und Utopie“ (Suhrkamp Verlag), die Abschnitte zur Reduktion der Erwerbsarbeitszeit und der Lebensarbeitszeit aus dem Buch „Kritik der ökonomischen Vernunft“ (Rotpunkt Verlag).

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