Morpheus Descending

„Orpheus Descending“ geht am Theater Basel auf der Kleinen Bühne bereits in die 17. Vorstellung, Zeit also für ein Sequel: „Morpheus Descending“. Morpheus, das ist der Typ in „Matrix“, der mit roten und blauen Pillen dealt und genauso der griechische Gott der Träume, der formt, gestaltet, verwandelt und transformiert.

„Morphen“

ist aber auch das aktuelle Lieblingswort von Regisseur Peter Kastenmüller, der zurzeit im Schauspielhaus den grossen Steinbeck-Roman „Jenseits von Eden“ probt. Morphen meint: die sekundenschnelle Verwandlung von Figuren auf offener Bühne in eine andere und das Erzählen einer Drei-Generationen-Geschichte mit ein und demselben Schauspieler-Cast. Das heisst zum Beispiel: Lorenz Nufer spielt nicht nur den irischen Einwanderer Samuel Hamilton, sondern auch seinen Sohn Will und den einen Zwillingsbruder Aron Trask; Hanna Eichel ist nicht nur Arons Freundin Abra Bacon, sondern auch ihre Mutter und die Prostituierte Ethel, und Martin Butzke nicht nur Arons Zwillingsbruder Cal, sondern auch seinen Grossvater Cyrus Trask.

(Das „Jenseits von Eden“-Szenarium: Ein halbes Jahrhundert über 44 Szenen. Wie kommt man von blau zu rot, von Generation I zu Generation III? Das Prinzip heisst: Morphing. )

Morphen bringt Körper und Geschichte zusammen und denkt Geschichte als eine körperliche.  Nicht das Individuum, sondern seine Zellen tragen die Zeit weiter, und damit geht die Geschichte über das einzelne Individuum hinaus. Der deutsche Philosoph Alexander Kluge schreibt: „Wem gehört die Zeit? Sie gehört den Zellen, allenfalls dem Planeten Erde selbst, nicht einmal dem Individuum. Hier enden die garantierten Freiheitsrechte.“ Darum macht es Sinn, wenn der gleiche Körper und damit die gleichen Zellen zu einer Fläche für mehrere Figuren werden und damit die Geschichte über einzelne Generationen und Menschenleben hinaus weitertragen. Der einzelne Mensch löst sich auf, die Historie bleibt. Und das ist auch das gross angelegte Experiment dieser Inszenierung: zu prüfen, ob das Erzählen von grossen Geschichten, von Gut und Böse, Familie und Krieg, Fortschritt und Moral auch nach der Dekonstruktion noch möglich ist.

Wer aber ist Morpheus bei Peter Kastenmüller? Morpheus in „Jenseits von Eden“ ist eine neue Erzählfigur, die weder in Steinbecks Roman noch Elia Kazans Film vorkommt, es ist eine Erzählerfigur namens John Europe, gespielt von der Schauspielerin Astrid Meyerfeldt. John Europe zitiert so postmodernes Textgut wie aus Jean Baudrillards „Amerika“ und so deutsch-kanonisiertes wie Theodor Fontanes Gedicht „John Maynard“; er ruft das Ende der Bedeutung aus und sehnt sich gleichzeitig nach seinen Wurzeln, ohne sie zu kennen. Er ist Mann und Frau und alles dazwischen, er ist Huhn und Ei gleichzeitig, indem er als das rollende Ei der Zeit und auch als sein Inhalt auftritt, wenn er sich aus sich selbst heraus neu gebärt. John Europe ist die Figur, die zwischen Amerika und Europa und seinen Projektionen hängt, aus dem Bild gefallen und gleichzeitig immer auf der Suche nach neuen Repräsentationen, er ist der ewig Schiffsreisende und Schiffsbrüchige. John Europe ist der, der „Jenseits von Eden“ zur Geschichte macht, mal als direkt ins Geschehen Involvierter, mal als Aussenstehender, immer aber als Morpheus, der die Zellen der Zeit und Generationen von Kain und Abel bis zu Cal und Aron zu einer langen Kette verknüpft, zu einer generationenübergreifenden DNA. Hier sind wir wieder bei den Zellen, der Zellenzeit. Eine neue Geschichte entsteht, mitten und quer durch Eden.

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