Eigenblutdoping

Würden Sie sich von einem Schild verleiten lassen, auf dem steht: «Nutzen Sie die Chance zum Eintritt in die Elite – nur heute und garantiert einmalig»? Die Aussichten sind vielversprechend, der Aufstieg garantiert: Willkommen im Fünften Imperium, dem Reich der Vampire. Alexander Nerlich bringt Viktor Pelewins Roman «Empire V» als aberwitzige Kapitalismusfarce und melancholische Sinnsuche auf die Kleine Bühne des Theater Basel.

Die Anfangsszenerie ist düster. Schwarze Gestalten, geschlossener Raum, Kidnapping-Verdacht. Und der junge Russe Rama, eben noch arbeitsloser Transportarbeiter und jetzt unfreiwillig an eine Sprossenwand gefesselt, fragt sich: «Verdammt, wie bin ich bloss hierhergekommen?» Ein Biss, ein Schuss, und Rama wird zum Vampir: Ab jetzt gibt es kein Zurück. Das Spiel, das hier gespielt wird, hat keinen Namen. Und noch mehr: Niemand weiss, wer es spielt.

This Game has no Name

Das Fünfte Imperium ist das Reich der Vampire, die sich als Elite der Schöpfung ein ganz besonderes Melktier herangezüchtet haben: den Menschen. Doch dieser bleibt Staffage, während das Personal von «Empire V» illuster ist: Da gibt es Mitra, den pragmatischen, gockelhaften Mephisto für Anfänger, Ramas Freund und Pate; Enlil, den hypnotischen Guru und Chefkoordinator der Vampire; Loki, den im stillen Konkubinat mit einer Gummipuppe lebenden Zen-Krieger; Freya, die Glamourqueen, die mit Loki zusammen ein stilsicheres und schlagkräftiges Lehrerpaar abgibt; Osiris, den Aussteiger und Philosoph der einfachen Lebensart. Und im akkadischen «Baum des Lebens» sitzt Ischtar, die schlecht alternde und längst kognaksüchtige Göttin der Vampire, french-manikürt, dreadgelockt und genauso wie der Rest des Casts auf der Suche nach dem Sinn des Lebens – oder, da der sich nicht zeigt, nach dem nächsten Schuss «Bablos», der Blutdroge der Vampire, die in der High-Tech-Variante des 21. Jahrhunderts nichts anderes ist als längst immateriell gewordenes Geld.

«Empire V», der 2006 in Russland erschienene Roman von Viktor Pelewin, hat nicht nur in seinem Heimatland, sondern in ganz Europa längst Kultstatus erreicht. Pelewin ist ein gerissener Spieler: Er würfelt Pulp und Fiction, Trash und Tradition wild durcheinander, verflicht die Anfänge der Menschheitsgeschichte mit gehobenem Science Fiction, kreuzt Jelzin und Rimbaud, Moskau und Babylon. Er spricht mit vielen Zungen gleichzeitig, doch keine ist die seine, und so stellt er schreibend das her, was er kritisiert: einen durch den Medienwolf gedrehten Wust an reproduzierten Diskursen; ein Konglomerat aus Werbetexten, Propaganda, News und Halbwissen. Wer im Spiel beziehungsweise im System bleiben will, braucht die richtige Zunge und den richtigen Diskurs; wer sich dem gängigen Sprechen hingegen verweigert, verliert seine Sprache.

So ist es mehr als sinnbildlich, dass Rama als frischgebissener Vampir als erstes eine neue Zunge erhält und sich an eine neue Sprache gewöhnen muss. Er erhält Unterricht in «Glamour» und «Diskurs», den ideologischen Grundsäulen des Imperiums, durchläuft seltsame Verköstigungsrituale und muss sich schrägen Prüfungen unterziehen. Bald erlebt er seinen ersten «Persönlichkeitsparcours»: Ein Schluck aus einem Reagenzgläschen fremden Blutes, und schon spult sich das ganze Leben eines Menschen vor seinem Inneren ab. Was Rama zuerst fasziniert, wird bald zum Albtraum, als er sich in die junge Vampirin Hera verliebt und beim ersten Date einen fatalen Fehler begeht: Beissen statt küssen kommt nie gut, und Kontrolle statt Vertrauen sind keine gute Basis für eine knospende Beziehung. Doch Rama erhält eine zweite Chance. Zu diesem Zeitpunkt ist er aber längst selbst ein Süchtiger: süchtig nach «Bablos», dem mysteriösen Konzentrat, das die Vampire den Menschen abmelken – ein Destillat aus menschlicher Lebensenergie und ihrem mit Glamour gefütterten Denken, das immer um denselben Kern kreist: das Geld.

Überhaupt, was ist das, das Geld? Was der Mensch noch fragt, wissen die Vampire längst. «Empire V» entwickelt eine rasante Geldtheorie, die den Kapitalismus ad absurdum führt und alle offenen Fragen klärt. Doch weil der menschliche Verstand dem vampirischen Denken das Wasser nicht reichen kann, bleibt uns nur das diffuse Gefühl, dass das Leben im 21. Jahrhundert immer imaginärer wird, und was der Mensch herstellt, braucht und verbraucht, immer unsichtbarer. Geld und Arbeit verschwinden nach und nach im virtuellen Raum. Noch reicht die Dosis an Bildern, Glitzer und Glamour, um uns mit genügend Reiz-Nährstoffen und Sinnhaftigkeitsbausteinen zu versorgen. Doch das Leben schwindet. Der Entkoppelungsprozess vom Realen scheint unaufhaltbar. Das sind die gloriosen Zeiten des Rausches und der Gier. Wenn überall die Leere lauert, wird die eigene Existenz mit Vorliebe mit Drogen, explodierenden Aktienkursen oder, wie in «Empire V», mit fremden Bildern gedopt: Die Vampire zapfen den Lebenssaft unbekannter Menschen für sich ab und berauben sie damit ihrer Gefühle und Geschichten. So unterliegt der Mensch einem Schrumpfprozess am lebendigen Leib, und in diesem Zustand macht der Kapitalismus auf einmal wieder Sinn: Die Materie und all die schillernden Kaufgegenstände sind Rettungsbojen im überbordenden Bildersturm der Datenautobahnen, auf denen wir links und rechts vom Imaginären überholt werden.

Noch wirkt der Kapitalismus und seine Waren- und Güterströme der Totalvirtualisierung der Welt entgegen, und vielleicht ist es das, was ihn so resistent macht. Vielleicht sind es aber auch die Vampire: Ihre Kommandozentrale Moskau ist die Hauptstadt des Geltungskonsums und damit das Sinnbild des Guerilla-Kapitalismus. Zeig mir, was du hast, und ich kenne deine Waffe.

Wenn das Leben hinter Bilderstürmen und Sprachkonzentrat verschwindet, wo bleibt dann der Mensch? Es ist eine neue Menschenklasse, die Viktor Pelewin mit den Vampiren in «Empire V» beschreibt: die Untoten. Die Untoten sind die, die’s geschafft haben. Sie sind uniform, potent und krisenresistent; Gleichgültigkeit ist ihr zweiter Name. Die Untoten haben den Menschen überlebt, der immer auch für das Unfertige und den Fehler im System steht, doch gleichzeitig unterlaufen sie ihn: «Oben ist unten», doziert Enlil, der allwissende Boss der Vampire einmal, und das ist wörtlich zu nehmen: Der Übermensch ist eigentlich ein Untermensch, und das Überleben als Untoter ist keine Überwindung des Menschlichen im Positiven, sondern ein reduziertes Leben auf Schwundstufe, ein Unterleben – wenn überhaupt Leben. Pelewins vampirischer Übermensch ist ein Zombie, dem das Leben nichts mehr anhaben kann. Angefüllt mit einer Überdosis ideologischen Wissens, ist ihm die lebenslange Funktionstüchtigkeit im System garantiert. Krisenanfällig? Das ist nur das Humane.

Sich den Menschen beziehungsweise so etwas Altmodisches wie die Seele auszutreiben ist aber gar nicht so einfach. Rama bleibt lange der ewig verständnislose Taugenichts, und sein Fragen und Zweifeln, das jedem Elite-Schüler schon Kopf und Kragen beziehungsweise den brillanten Abschluss gekostet hätte, ist seine Waffe: Solange er nichts kapiert, ist er gegen die Indoktrination mit «Glamour» und «Diskurs» immun. Denn wer im Fünften Imperium etwas werden will, muss einer Regel folgen: Gefragt wird nicht, es wird verstanden. Und wenn das nichts hilft, hilft dosiertes Doping, um auf der (Überhol-)Spur zu bleiben. Oder wie Graf Dracula sagt: «Image ist nichts. Durst ist alles.»

Alexander Nerlich entwirft auf der Kleinen Bühne eine bizarr-verzauberte Gegenwelt, in der sich Spiel und Wirklichkeit von Level zu Level mehr verschachteln. Sein Gespür für Verwandlungen, Doppelwelten und die Nachtseiten des Menschlichen hat der 32-jährige Regisseur am Theater Basel schon mehrmals bewiesen: In der Spielzeit 2009/10 inszenierte er hier «Jekyll und Hyde» von Robert Woelfl, ein Jahr davor «Auf dem Land» von Martin Crimp. Für «Empire V» arbeitet er zum ersten Mal mit den Bühnen- und Kostümbildnerinnen Annina Züst und Vera Locher und erneut mit der Videokünstlerin Franziska Nyffeler zusammen, die der Metropole Moskau, wohl eine der falsch glitzerndsten Metropolen der Gegenwart, doppelte Böden und unsichtbare Falltüren unterjubelt. Hinter blendenden Werbetafeln lauern dunkle Eingänge und seltsame Treppenflure, und wer nicht aufpasst, fällt in schwarze Löcher.

Am Ende überstürzen sich im Fünften Imperium die Welten, und die Fäden der Macht verknoten sich. Ein übereilt anberaumtes Duell spitzt die Handlung auf den Höhepunkt zu, und Rama muss beweisen, dass er fleissig genug gelernt hat. Doch mit der letzten Prüfung wird auch über ihn entschieden: Hat er das letzte Level im Spiel erreicht? Oder heisst es: Game Over? Ein finaler Trip, ein Flug über das verschneite Moskau, und Rama hat eine Erkenntnis: «Säumt nicht zu leben.» Oben ist unten. Leere ist Fülle. Und die grösste anzunehmende Karriere der freie Fall.

«Empire V» wirft einen letzten Blick auf den Menschen kurz vor seinem Verschwinden –   auf dieses seltsam veraltete und sinnlose Wesen, das trotz allem über das verfügt, was Vampire süchtig macht. Irgendwie muss doch etwas dran sein an diesem Leben.

«Empire V» nach dem Roman von Viktor Pelewin

aus dem Russischen übersetzt von Andreas Tretner.

Regie: Alexander Nerlich / Bühne und Kostüme: Vera Locher und Annina Züst / Video und Illustrationen: Franziska Nyffeler / Musik: Malte Preuss / Dramaturgie: Fadrina Arpagaus / Mit: Leopold Hornung, Marie Jung, Dirk Glodde, Katka Kurze, Martin Hug, Atef Vogel – Schweizer Erstaufführung.

Premiere am 21.1.2012, 20.15 Uhr Kleine Bühne!

Illustrationen: Franziska Nyffeler

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